Verwaiste Werke - Verfahren für den digitalen Zugang zu einem bedeutenden Teil des kulturellen Erbes erforderlich

Resolution der Deutschen UNESCO-Kommission, Bonn, Dezember 2008

Resolutionen der Deutschen UNESCO-Kommission

Über die Verabschiedung von Resolutionen der Deutschen UNESCO-Kommission beschließt die Hauptversammlung auf ihrer jährlichen Tagung.

Zur Übersicht der Resolutionen aus den letzten Jahren

Die Deutsche UNESCO-Kommission unterstützt Vorhaben zur Digitalisierung verwaister Werke¹ und sieht sie als große Chance, den Zugriff auf diesen bedeutenden Teilbestand des kulturellen Erbes für jeden möglich zu machen. Zugang zum Weltwissen im digitalen Raum ist ein zentrales Anliegen der UNESCO. Dies kommt sowohl im UNESCO-Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen als auch beispielsweise in den 2007 und 2008 von der DUK verabschiedeten Resolutionen zu "Open Access" und "Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung und Information durch neue Medien" zum Ausdruck.

Die Deutsche UNESCO-Kommission anerkennt, dass verwaiste Werke auch ein großes Potenzial für deren kommerzielle Vermarktung haben. Dies ist auch im Interesse einer breiteren öffentlichen Zugänglichkeit. Die Deutsche UNESCO-Kommission erwartet aber, dass durch die Digitalisierung der verwaisten Werke keine neuen exklusiven Rechtsansprüche entstehen, die den freien² Zugriff auf diese Güter und deren freie Nutzung einschränken oder sogar unmöglich machen.

Die Deutsche UNESCO-Kommission setzt sich dafür ein, dass bei der Digitalisierung von verwaisten Werken auch die ideellen und finanziellen Interessen der Urheber berücksichtigt werden. Daher müssen vor der Digitalisierung angemessene Verfahren zur Ermittlung möglicher Urheber und zur Abgeltung später auftretender Rechtsansprüche zur Anwendung kommen. Die Deutsche UNESCO-Kommission befürwortet, dass entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen im nationalen und im europäischen Umfeld geschaffen werden.

Dazu gehört, es auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu ermöglichen, verwaiste Werke, die sich in ihren Archiven befinden, im Rahmen ihres öffentlich-rechtlichen Funktionsauftrags der Öffentlichkeit zeitsouverän zugänglich zu machen.

 

Erläuterungen zum Text

Folgende Erwägungen haben die Deutsche UNESCO-Kommission bei ihrem Beschluss geleitet:

Notwendigkeit der Erschließung verborgener Kulturschätze

Verwaiste Werke machen einen gewichtigen Teil des gesamten kulturellen Erbes aus, der aber aus Gründen der urheberrechtlichen Unsicherheit bislang von Bibliotheken, Archiven oder Medienanstalten, aber auch von der Informationswirtschaft nur sehr unvollständig der Öffentlichkeit in elektronischer Form zugänglich gemacht wird. Erhebungen gehen davon aus, dass diese Werke zwischen 30 und 50% der Bestände ausmachen. Dazu gehören nicht zuletzt auch  Bild-, Ton- und Filmdokumente aus der Vorkriegszeit, die in ihren originalen Formaten bedroht sind und als kulturelles Erbe in elektronischer Form dauerhaft bewahrt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Die Digitalisierung verwaister Werke bietet eine große Chance, den Bereich öffentlicher Güter und damit den Zugriff auf das gemeinsame kulturelle  Erbe  zu erweitern. Dies bei digital gespeicherten Werken nachhaltig zu tun, ist allerdings mit erheblichem technischen und finanziellen Aufwand verbunden.

Beseitigung von Rechtsunsicherheit

Wegen der bestehenden Unsicherheit, dass später Rechtsansprüche geltend gemacht werden, zögern die Bewahrer von verwaisten Werken häufig, diese zu digitalisieren. Sie zögern, weil eventuell nach den Investitionen in das Digitalisieren doch noch urheberrechtliche Ansprüche geltend gemacht oder sogar Veröffentlichungsverbote durchgesetzt werden könnten. Bibliotheken und andere entsprechende Einrichtungen wie Archive müssen die erforderliche, rechtlich verbindliche Grundlage bekommen, solche verwaisten Werke zu digitalisieren, ohne dass damit zukünftige Ansprüche ausgeschlossen werden, aber auch nicht die Gefahr besteht, dass die getätigten Investitionen zur Digitalisierung, Langzeitspeicherung und öffentlichen Zugänglichmachung wieder rückgängig gemacht werden müssen.

Einbeziehung der Verlagswirtschaft in den Prozess der öffentlichen Zugänglichmachung  verwaister Werke

Die Deutsche UNESCO-Kommission sieht die Chance, dass durch die Digitalisierung von verwaisten Werken in der Zusammenarbeit von Informationswirtschaft und öffentlichen Einrichtungen innovative, attraktive und elektronischen Umgebungen angemessene Modelle des Öffentlichmachens eines bedeutenden Teils des  kulturellen Erbes entstehen können. Andererseits darf  die allgemein sich abzeichnende Tendenz, kulturelle Güter aus Museen, Archiven und Bibliotheken privaten Anbietern bzw. kommerziellen Verwertern zur Digitalisierung frei zu geben, nicht zu einer nicht hinnehmbaren Einschränkung des allgemeinen Zugangs zu diesen Gütern führen. Wie auch die DFG  ist die DUK der Überzeugung, dass durch die Digitalisierung der verwaisten Werke an diesen keine exklusiven Rechtsansprüche entstehen dürfen.

Sicherung der Urheberrechtsansprüche bei Offenhalten des Zugriffs

Die Digitalisierung und das öffentliche Zugänglichmachen von verwaisten Werken haben keine systematischen Auswirkungen auf die Rechte der Urheber - die Rechte an diesen Werken bleiben bestehen, auch wenn sie aktuell von den Rechteinhabern nicht wahrgenommen werden. Verwertungsrechte an digitalisierten verwaisten Werken sollten in der kommerziellen Umgebung nicht zu exklusiv den Verwertern (z.B. Verlagen) eingeräumten Nutzungsrechten  führen, sondern stattdessen parallel in  Open-Access-Publikationen für die Öffentlichkeit „verwertet“ werden. Dies sollte sich bei der Digitalisierung durch öffentliche Einrichtungen von selbst verstehen.

Transparente Verfahren zur Ermittlung möglicher Urheber und zur Abgeltung später auftretender Rechtsansprüche

Verwaiste Werke sind nicht vogelfrei, so dass versucht werden muss, für deren Wiedernutzung die Urheberrechte zu klären. Die Ansprüche an die Ermittlung der Rechteinhaber an verwaisten Werken sollten aber nicht zu hoch gesteckt werden. In der Fachwelt wird davon gesprochen, dass eine „reasonably diligent search for the copyright owner” ausreichen sollte. Gemeint ist damit eine dokumentierte Standardsuche in den allgemein verfügbaren Ressourcen der Informationsvermittlung, einschließlich der Online-Datenbanken und der Suchmaschinen bzw. anderer Metainformationsdienste des Internet. Es muss finanzielle und organisatorische Vorkehrung getroffen werden, damit später bekannt werdende Ansprüche der Rechteinhaber angemessen entgolten werden können.

 

¹ Verwaiste Werke sind Werke aller Art (Text, Musik, Film), die auf Grund ihres Publikationsdatums zwar urheberrechtlich geschützt sind, deren Rechteinhaber aber unbekannt sind bzw., wenn bekannt, nicht ausfindig gemacht werden können.

² "Frei" im Sinne von fair und für jedermann zugänglich wie u.a. definiert in: https://www.ifla.org/publications/node/29011