Jakob Muth-Preisträger

Schulcampus Rostock-Evershagen - Rostock (Mecklenburg-Vorpommern)

Jeder Tag ist anders für Sonderpädagogin Andrea Krause am Schulcampus Rostock-Evershagen, die didaktische Leiterin des Campus. Heute Morgen stattet sie als erstes einem Schüler einen Besuch ab. Sie trifft Yannik*  in der ersten Stunde in einer AG zum Thema filmische Animation an. Denn an der gebundenen Ganztagsschule finden die AGs auch tatsächlich den ganzen Tag über zu verschiedenen Zeitpunkten statt und tragen dazu bei, den Schultag für die 935 Schülerinnen und Schüler abwechslungsreich und spannend zu gestalten.

Andrea Krause möchte nachsehen, wie der sehbehinderte Schüler mit seinem neuen Hilfsmittel zurechtkommt. „Wir haben uns gemeinsam darum gekümmert, dass er ein Tablet mit Lupenfunktion bekommt und probieren das jetzt miteinander aus, was er wie vergrößern kann, welche Tafelbilder er abfotografieren kann, damit er ungehindert am normalen Unterricht teilnehmen kann“, erläutert die Sonderpädagogin. Vorher hatte er eine Lupe, die hat er allerdings eher ungerne eingesetzt. Und weil es eine von Andrea Krauses Aufgaben ist, Möglichkeiten zu suchen, wie die Schülerinnen und Schüler in ihrem Lernen unterstützt werden können, musste eine andere Lösung her. Das Tablet passt, Yannik kommt gut damit klar.

Schulcampus Rostock-Evershagen - Rostock (Mecklenburg-Vorpommern)

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Andrea Krause hat als nächstes einen Telefontermin mit einem Arzt wegen eines anderen  Schülers; in Absprache mit den Kindern und Eltern ist er der Schule gegenüber von seiner Schweigepflicht entbunden. Sie erklärt: „Es ist immer ein gegenseitiges Sich-Austauschen. Wenn Kinder Medikamente bekommen, dann beobachten wir natürlich, wie lange wirken sie, wann ist das Kind noch konzentriert, wann lässt das nach?“ Denn es geht dem Schulcampus Rostock-Evershagen nicht nur um das Lernen der Kinder und Jugendlichen, sondern um den ganzen Menschen – auch völlig unabhängig davon, ob ein Förderbedarf diagnostiziert wurde oder nicht. Die Sonderpädagogin, wie eigentlich alle Erwachsenen an der Schule, fühlt sich für alle Schülerinnen und Schüler zuständig. „Alle Kinder sind individuell. Und Inklusion heißt nie, alle gleich behandeln, aber es heißt: jeden Einzelnen sehen, niemanden übersehen, jeden ernst nehmen“, erklärt sie. Wie Schulleiter Gerald Tuschner formuliert: “Jeder Schüler, jede Schülerin kann jederzeit in eine Krise kommen oder mit einer Krise oder Krankheit in Kontakt kommen. Jeder und jede Jugendliche kann phasenweise einmal Unterstützung benötigen. Und die bekommen sie dann am Schulcampus auch.“ Deswegen haben Schulleitung, Sonderpädagogin und  Schulsozialarbeiter gemeinsam ein großes Unterstützungsnetzwerk aufgebaut. Sie stehen bei Bedarf in Kontakt mit Eltern, Ärzten, Therapeuten, dem Jugendamt und vielen mehr. Das ist wichtig, um das Kind im Ganzen zu verstehen. Frau Krause formuliert: „Wir verstehen uns hier sehr wohl als professionell, aber nicht als allwissend. Wir möchten mit Professionen zusammenarbeiten, damit nicht mehrere an einer Sache arbeiten, dadurch das Kind gelangweilt wird oder damit Dinge nicht vergessen werden, weil jeder denkt, der Andere kümmert sich drum.“

Als nächstes steht für die Sonderpädagogin ein Reflexionsgespräch mit den Schulbegleitungen des Campus an. Der Schule ist besonders wichtig, dass die Schulbegleitungen wissen, was ihr Ziel ist: nämlich schlussendlich, sich überflüssig zu machen. Gleich drei Dinge sind deshalb wichtig in der Zusammenarbeit mit der Caritas Mecklenburg e.V.: die gemeinsam mit der Caritas entwickelten Standards, die Tatsache, dass alle Schulbegleitungen am Campus von der Caritas Mecklenburg e.V. als Träger entsandt werden, und dass sie alle pädagogisch ausgebildet sind. Andreas Meindl, Leiter der ambulanten Behindertenhilfe der Caritas, erläutert den Modellcharakter der Zusammenarbeit: „Wir haben mit dem Schulcampus Rostock-Evershagen jemanden gefunden, der unsere Mitarbeiter an die Hand nimmt, gleichzeitig vor Ort schult, wir unsere Mitarbeiter hier vor Ort bei uns schulen können und das bietet keine andere Schule.“

Gegen Ende des Gesprächs zwischen didaktischer Leitung und Schulbegleitungen klopft es an der Tür: Ein Schüler mit trauriger Miene möchte mit der Sonderpädagogin sprechen. Zu Hause gab es wieder familiäre Probleme. Frau Krause kontaktiert das Jugendamt und bemüht sich, eine schnelle und flexible Lösung zu finden. Außerdem schreibt sie eine Notiz für die betreffenden Lehrkräfte. Sie wissen diese Informationen zu schätzen: „Ich kriege exklusive Informationen über Schüler. Das hilft mir Sachen einzuschätzen und damit umzugehen“, sagt Klassenlehrer Felix Wickner. So können die Lehrkräfte schnell darauf reagieren und das wirkt sich direkt auf den Schüler aus, weiß Musiklehrerin Heike Mundo: hat ein Schüler etwa gerade zu Hause Schwierigkeiten gehabt, dann kann sie darauf eingehen und: „Dann kann er sich eben mal einen Moment ausruhen oder mal einfach nur zuhören oder mal wirklich die Seele baumeln lassen, was so wichtig ist, gerade in so einer großen Schule wie bei uns.“ Darüber hinaus steht Andrea Krause den 90 Regelschullehrkräften als didaktische Leiterin sowohl in Bezug auf Themen der allgemeinen Unterrichtsentwicklung als auch der sonderpädagogischen Förderung einzelner Schülerinnen und Schüler beratend zur Seite. Kunstlehrer David Reichenbach nimmt die Entlastung gern in Anspruch: „Die Sonderpädagogik ist ein Bereich, den ich nicht so kenne und dort sozusagen von dem Wissen, dem Know-how profitiere, damit ich weiß, wie ich mit diesem Schüler umgehen kann, damit Nachteile ausgeglichen werden.“

Ein weiterer Termin von Andrea Krause ist heute dann noch der wöchentliche Austausch mit dem Schulsozialarbeiter Michael Gartschock. Sie tauschen sich zu aktuellen Situationen und Entwicklungen aus, stellen Kontakte her und überlegen Lösungsansätze. Michael Gartschock sieht die Hauptaufgabe ihrer Unterstützung darin, dass „jeder Schüler so sein kann, wie er sein will, wie er sein muss, wie er es für sich gut empfindet und seine Stärken dann auch ganz klar herausfiltern kann.“

Später ist Andrea Krause noch mit einer Schülerin verabredet. Sie wollen gemeinsam ihre Lernvereinbarungen durchsprechen und überlegen, ob für sie ein innerschulischer Wechsel in Frage kommen könnte. Das Besondere am Schulcampus Rostock-Evershagen ist, dass sich unter einem Dach unter einer Schulleitung Orientierungsstufe, Gymnasium, Regionale Schule und flexible Schulausgangsphase befinden. So ermöglicht der Schulcampus unterschiedliche Schulabschlüsse. Der Schulleiter Gerald Tuschner reagiert stets flexibel auf die individuellen Lernprozesse der Jugendlichen: „Hast Du es am Gymnasium ausprobiert, bist überfordert? Kein Problem. Wir haben einen Platz an der Regionalen Schule. Du bist an der Regionalen Schule, möchtest es am Gymnasium mal ausprobieren, sicher, da gibt es gesetzliche Vorschriften, welche Durchschnitte man haben muss, aber: Du kannst es ja vorher in der Schnupperwoche mal ausprobieren, wie die Lernatmosphäre ist, ob das was wäre für Dich!“ Für die Schülerinnen und Schüler ist der Vorteil klar: Sie haben alle Möglichkeiten, müssen ihr Umfeld aber nicht verlassen. Und für sie sind sie sowieso Schüler einer Schule, erzählt Benedikt, Mitglied des Schülerrats: „Wir haben schulteilübergreifende Freundschaften, im Regionalteil wie im gymnasialen Teil. Und ich finde, es ist einfach eine wundervolle Schule, wenn man hier jeden Tag herkommt und freundliche Gesichter sieht.“

Wer im Schulcampus zur Schule geht, für den sind „Schule“ und „Leben“ nicht zwei säuberlich voneinander getrennte Bereiche. Sondern Ziel des Schulcampus ist es, für jeden Schüler, jede Schülerin, in jeder Lage Ansprechpartner und Lösungen zu finden. Die Tür der didaktischen Leitung steht deshalb immer offen – und auch der Sozialpädagoge wird viel und gerne von Schülern um Rat gebeten. Was auf den ersten Blick verwundern mag – die hohen Zahlen von Schülerinnen und Schülern, die sonderpädagogische Förderung in Anspruch nehmen – ist ein Zeichen vom Erfolg dieses Systems: dass hier alle genau dann die Förderung und Unterstützung bekommen, wenn sie sie benötigen, jenseits von offiziellen Diagnosen.

Kontakt:
Schulcampus Rostock-Evershagen
Thomas-Morus-Straße 1-3
18106 Rostock

Schulleitung:
Herr Gerald Tuschner (Schulleiter)
Herr Jens-Peter Frank (stellv. Schulleiter)

Didaktische Leitung:
Frau Andrea Krause

Telefon: 0381 7998861
E-Mail: kontakt(at)schulcampus-rostock.de

Webseite:
http://schulcampus-rostock.de/